06. September 2012
IW-Studie zu industriellen Wertschöpfungsketten in Deutschland
In der deutschen Industrie herrscht große Unsicherheit darüber, welchen Einfluss die Energiewende auf ihr Geschäft haben wird. Das belegt eine neue Studie des Institutes der Deutschen Wirtschaft im Auftrag der Branchenverbände Chemie (VCI), Maschinenbau (VDMA) und Stahl (WVS): Rund 80 Prozent der Unternehmen im verarbeitenden Gewerbe können zurzeit nicht solide einschätzen, ob der politisch gewollte Umstieg auf erneuerbare Energien ihrer Entwicklung am Standort Deutschland schadet oder nützt. Lediglich 1 Prozent der befragten Unternehmen erwartet eine deutliche Stärkung durch die Energiewende. Dagegen sehen 19 Prozent die Gefahr einer erheblichen Schwächung. „Die Studie zeigt, wenn die größte Herausforderung für unser Land seit der Wiedervereinigung gelingen soll, muss die Politik endlich ihre Hausaufgaben machen“, erklärte der Hauptgeschäftsführer des VDMA, Dr. Hannes Hesse. Die hochgradige Verunsicherung der Industrie führe zwangsläufig zur Zurückhaltung bei Investitionen.
Diese Verunsicherung ist vor der Bedeutung der industriellen Wertschöpfungsketten zu sehen. Rund 70 Prozent des verarbeitenden Gewerbes, so die IW-Studie, profitieren von der Innovationskraft energieintensiver Unternehmen. Dies gilt besonders in den Geschäftsfeldern „neue Werkstoffe“ sowie „Material- und Energieeffizienz.“ Ein erheblicher Teil der Unternehmen befürchtet, dass ihre Wertschöpfungsketten infolge weiter steigender Energiekosten instabil werden könnten, da sie mit energieintensiven Unternehmen direkt oder indirekt über Zulieferer verflochten sind. „Inländische energieintensive Unternehmen können bei der gemeinsamen Entwicklung nicht ohne weiteres ersetzt werden“, betont Hesse. „Für viele Branchen ist die Energiewende ein Investitionsprogramm. Das funktioniert aber nur, wenn wir die geschlossenen Wertschöpfungsketten und Innovationsnetzwerke zwischen den Kernbranchen der Industrie erhalten. Deshalb dürfen die Strompreise nicht aus dem Ruder laufen.“
Eine Zahl unterstreicht, wie eng die Industriebranchen in Deutschland miteinander verflochten sind: Laut der IW-Studie liefern sich Chemie, Metallindustrie, Maschinen- und Fahrzeugbau sowie andere Industriezweige gegenseitig Produkte im Wert von über 180 Milliarden Euro (Daten für 2007). Innerhalb der Industrie nimmt dabei die Arbeitsteilung zu. „Die Verknüpfung der Unternehmen mit einem Netzwerk, das von vielen Betrieben mit unterschiedlichen Kompetenzen gebildet wird, ist eine charakteristische Eigenschaft der deutschen Industrie. Kluge und weitsichtige Industriepolitik darf daher nicht auf einzelne Branchen abzielen, sondern muss die Industrie als Ganzes stärken“, sagte der Hauptgeschäftsführer des VCI, Dr. Utz Tillmann, zu den Ergebnissen der Studie.
Die Erhebung des IW zeigt, dass die Vernetzung der Branchen die Fähigkeit der gesamten Industrie fördert, neue Produkte und Verfahren zu generieren: Laut Studie arbeiten 60 Prozent aller Unternehmen im verarbeitenden Gewerbe in Netzwerken an innovationsbezogenen Themen. Der Produktionsverbund wird so um einen Innovationsverbund ergänzt. „Nur wo produziert wird, können Produkte verbessert oder Prozesse effizienter organisiert werden. Und nur wo ständig geforscht wird, bleibt die internationale Wettbewerbsfähigkeit erhalten“, unterstreicht Hans Jürgen Kerkhoff, Präsident der Wirtschaftsvereinigung Stahl. „Robuste und integrierte Lieferketten sind damit die Basis für die Exporterfolge der deutschen Wirtschaft. Und sie sind Voraussetzung dafür, dass wir auch künftig von globalen Megatrends wie Energieeffizienz, Umwelt- und Klimaschutz, neue Mobilität oder Urbanisierung profitieren können.“
Der Anteil der deutschen Industrie am Bruttoinlandsprodukt liegt seit Jahren konstant bei gut 21 Prozent – zieht man industrienahe Dienstleistungen hinzu, erhöht sich der Anteil am BIP auf fast 31 Prozent. Hinter diesem stabilen Gesamtbild finden aber dynamische Veränderungsprozesse statt, wie die IW-Studie zeigt: Seit dem Jahr 2008 haben knapp 60 Prozent der Unternehmen neue Kunden und 40 Prozent neue Lieferanten gewonnen. Lieferantenwechsel haben primär betriebswirtschaftliche Motive, es geht vor allem um geringere Produktionskosten und höhere Qualität. Die Mehrzahl der Unternehmen sieht solche Veränderungen in den Wertschöpfungsketten als Chance, um wettbewerbsfähiger zu werden. Diese Change-Prozesse stoßen jedoch eindeutig an Grenzen, wenn es darum geht, inländische durch ausländische Lieferanten in den Wertschöpfungsketten zu ersetzen. Exakt 85 Prozent der befragten Unternehmen entscheiden sich bei vergleichbaren Preisen für deutsche Zulieferer. Selbst bei etwas höherem Preis bevorzugt noch gut ein Drittel einen Anbieter aus dem Inland.
Alle drei Verbände sind sich in einem Punkt einig: Vor dem Hintergrund der engen Verflechtungen zwischen den Grundstoff- und Investitionsgüterindustrien in Deutschland führe es nicht weiter, die Welt in energieintensive und nicht energieintensive oder gar in erwünschte oder unerwünschte Industrien einzuteilen. „Wir sitzen alle in einem Boot und stehen zusammen für die industrielle Leistungsfähigkeit und damit für die Sicherung des Wohlstands in Deutschland“, so so die Hauptgeschäftsführer der drei Wirtschaftsverbände.
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